06.09.2017

Whisky, Spargel und Ostalgie

Ein beschauliches Hofcafé mit leckeren Spargelgerichten und Erdbeerfeldern zur Selbsternte betreibt Schultzens Siedlerhof. Auf den zweiten Blick hat der Familienbetrieb im Havelland noch einiges mehr zu bieten: eine erstaunliche Geschichte, die sich durch die gesamte DDR-Zeit erstreckt, und die größte Whiskydestillerie Ostdeutschlands.

Ohne Herzblut kann man ein Unternehmen wie Schultzens Siedlerhof nicht führen: Michael Schultz, hier mit seiner Frau Doreen, kann sich an die Abläufe zu „DDR-Zeiten“ und die Anfänge als „Neueinrichter“ gut zurückerinnern

Schultzens Siedlerhof liegt im Glinower Ortsteil „Elisabethhöhe“. Im Havelland bedeutet „Höhe“ immerhin 76 m ü.N. Man kann den Blick schweifen lassen über die betriebseigenen Erdbeer-, Spargel- und Getreideflächen und zu den Wolkenformationen am Himmel. An einem sonnigen Mittag während der Spargelsaison sitzen viele Gäste im Garten vor Schultzens Siedlerhof. Unter Kirschbäumen sind Sandkasten und Spieltrecker für die kleinen Gäste angeordnet; Biergarnituren und Gartenmöbel bieten Sitzplätze – im Schatten der Bäume, in der Frühsommersonne oder im Zelt. Im Innenbereich sind weitere 60 Sitzgelegenheiten, die gern auch von Gruppen reserviert werden. Auf der Speisekarte findet sich eine kleine, aber feine Auswahl an Spargelgerichten; nachmittags lockt der hausgemachte Kuchen weitere Gäste an. Nur während der Saison herrscht auf Schultzens Siedlerhof öffentlicher Gastronomiebetrieb. Ab Ende Juni bietet Familie Schultz ein- bis zweimal monatlich feste Termine für Menüs inklusive Betriebsführung an. Zudem können Gruppen die Räume mieten -  auf Wunsch mit Verpflegung, die Doreen und Michael Schultz überwiegend aus regionalen Zutaten zusammenstellen. Direkt neben der Gartenwirtschaft reifen Erdbeeren auf Dämmen zur Selbsternte. Größte Whiskydestillerie Ostdeutschlands Im Hofladen findet man deutlich weniger Erdbeeren, Spargel und frisches Obst und Gemüse als man erwarten würde – dafür eine breite Auswahl an hofeigenen Bränden, Obstweinen und Whisky. Nichts weniger als die größte Whiskydestillerie Ostdeutschlands befindet sich in einer Halle hinter dem Hofladen. Nicht nur die Qualität sollte hier stimmen - der Betriebsleiter wollte zudem den gesamten Verarbeitungsbereich vom Getreidesilo über Maischebehälter und Brennerei bis zur Lagerung in Holzfässern für die Kunden zugänglich und zeigbar machen. Jede Destillerieführung beginnt im Außenbereich hinter der Halle. Hier lagert in zwei Außensilos das gemälzte Getreide, das mittels Förderschnecken in die Halle befördert wird. Das hier gelagerte Getreide stammt zu 100 % von eigenen Flächen – einige davon grenzen direkt an die Betriebsgebäude an. Der einzige Schritt, den das Getreide auf dem Weg zum Whisky nicht hier auf der Elisabethhöhe geht, ist das Mälzen. „Die Investitionen, die für eine eigene Mälzerei erforderlich sind, hätten unsere betrieblichen Kapazitäten überstiegen“, erklärt Michael Schultz. So bringt er seine gesamte Getreideernte jeden Herbst in die Mälzerei Steinbach nach Zirndorf. Hier wird das Getreide vorgekeimt, dann in seinem Wachstumsprozess mittels Heißluftzufuhr gestoppt, anschließend wieder getrocknet und damit auch wieder lagerungsfähig gemacht. Die erste Verarbeitungsstation in der Halle ist die Schrotmühle. Das geschrotete Getreide wird eingemaischt, gebrannt, in Eichenfässern gelagert und schließlich in Flaschen abgefüllt. Dabei überlässt Michael Schultz wenig dem Zufall. Die Arbeitsprozesse hat er so weit wie möglich automatisiert und die persönliche Kontrolle derselben vereinfacht. Der Maischebehälter verfügt über eine Kühlung, die automatisch anspringt, wenn die Maische zu heiß wird. Alle Faktoren im Verarbeitungsprozess, die später die Qualität des Whiskys prägen, hat Michael Schultz ausgetüftelt und schriftlich dokumentiert: Welche Zutaten in welchem Mischungsverhältnis wie lange bei welcher Temperatur brodeln und gären und lagern, ist in einer Rezeptur festgehalten, sodass der Betriebsleiter die Überwachung des „heiligen“ Brennvorgangs auch gut an eingelernte Mitarbeiter abgeben kann. Jedes der rund 200 Fässer, die dekorativ in der Halle gestapelt sind, hat Michael Schultz persönlich ausgewählt. Die meisten stammen aus Frankreich und haben bereits verschiedene Rotweine beherbergt. Jedes Fass hat seine individuelle Duftnote, die es an den Whisky weitergibt. Mindestens drei Jahre und einen Tag bleibt der Whisky im Fass – dies ist gesetzlich vorgeschrieben. Wie viele weitere Monate oder auch Jahre dazu kommen, entscheidet Michael Schultz nach seinem Geschmack. Er probiert die edlen Tropfen nach drei Jahren. „Sie sind fertig, brauchen noch Zeit, oder sind gut, haben aber noch Potenzial.“ beschreibt er die drei möglichen Kategorien. Manche Fässer lagern bereits seit zehn Jahren. Besonders an der Schaubrennerei sind die großen Fenster, hinter denen jenes Getreide seine Halme im Wind wiegt, das in frühestens vier Jahren ein Whisky sein wird. Glina-Whisky Der poetische und geschützte Markenname Glina, den der Whisky trägt, ist übrigens der altslawische Begriff für „Ton“ und findet sich als Wortstamm im Ortsnamen Glinow wieder. Den Landwirten präsentiert sich der Boden im Havelgebiet als reiner und wenig fruchtbarer Sandboden. Doch wer tiefer gräbt, findet Tonadern. So gab es um den Betrieb herum um die Jahrhundertwende bis zu 20 Ziegelbrennereien. Heute gibt es nur noch eine Ziegelbrennerei in Glinow, die gleichzeitig ein Museum ist. Und Glina, den nach dem Ton benannten Whisky. Fast alles, was auf dem rund 70 ha großen Betrieb wächst, fließt in die hofeigene Verarbeitung. Neben dem Whisky spielen Obstbrände und -weine eine wichtige Rolle - beispielsweise der Apfelwein nach altem slawischen Rezept, der vier Jahreszeiten lang in Holzfässern unter freiem Himmel lagert, um sein Aroma zu entwickeln. Beliebt sind auch die sortenreinen Brände aus den alten Apfel- und Birnensorten, die auf den Betriebsflächen wachsen, wie `Kaiser Wilhelm´- oder `Gräfin von Paris´-Brand. Michael Schultz schätzt, dass rund 20 % der gesamten Ernte über Hofladen und Gastronomie den Betrieb verlassen; 40 % gehen an landwirtschaftliche Hofläden und Feinkostläden, und 40 % an Großabnehmer. Der Edel-Versand Manufaktum zählt zu den Kunden, ebenso wie das Kaufhaus des Westens in Berlin und die Galeria Kaufhof. Rund zehn Mitarbeiter beschäftigt Familie Schultz, zuzüglich Saisonkräfte für Gastronomie und Ernte. Eine außergewöhnliche Historie Auf vielen Betrieben spielt die Direktvermarktung seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle und jeder hat wohl auf seine Art Veränderungen in Gesellschafts- und Kundenstruktur erlebt. Was es jedoch bedeutet, als Familienbetrieb die DDR-Zeit zu durchleben, sprengt jede Vorstellung eines westdeutschen Landwirts und ist einer näheren Betrachtung wert. Michael Schultz erzählt von seinem Urgroßvater, der den Siedlerhof auf der Elisabethhöhe vor dem 1. Weltkrieg über Umwege von einem ortsansässigen Ziegeleibetreiber abgekauft hatte. Nach der Gründung der DDR wurden die Großeltern „freundlich“ gebeten, Flächen und Gebäude an die entstehende Kolchose abzugeben. Nur einen halben Hektar durfte die Familie für den Anbau eigener Produkte behalten. Und ein paar Traktoren und Geräte wurden heimlich in der Garage aufbewahrt. Während die Großeltern, die Eltern und später auch noch der aktuelle Betriebsleiter in der staatlichen LPG arbeiteten, führten sie kontinuierlich einen kleinen Direktvermarktungsbetrieb mit hofeigener Verarbeitung. Tomaten wurden an Bekannte verkauft; aus Obst wurde eigener Wein hergestellt, der wiederum sehr nützlich für Tauschgeschäfte war. „Wir haben den Wein nicht verkauft, aber wenn das Auto ein neues Getriebe brauchte, oder im Frühjahr Tomatenpflanzen fehlten, war er sehr nützlich...“, schmunzelt Michael Schultz rückblickend. Der heute 46-Jährige machte noch zu DDR-Zeiten eine Ausbildung zum Gärtner bestand. „Als Jahrgangsbester arbeitete ich mit lauter ungelernten Kräften gemeinsam in der Erntebrigade und pflückte Kirschen – da hatte ich bereits das Gefühl, mit dem ganzen System stimmt was nicht“, erinnert er sich. Seine Qualifikation hätte doch in den administrativen Bereich gehört, und nicht auf dem Kirschbaum. Start mit 4 ha eigener Fläche Nach der Wende beschloss die Familie, zu so genannten Wiederneueinrichtern zu werden. Sie erhielten 4 ha eigene Fläche zurück, holten die eingestaubten Traktoren anno 1930 aus der Garage und begannen mit dem Wiederaufbau des eigenen landwirtschaftlichen Betriebs. Ein Teil der Flächen war mit Apfel- und Kirschbäumen bepflanzt. Auf den freien Flächen bauten die Schultzens Erdbeeren an. Vermarktungsstrukturen gab es nicht – doch liegt die Hauptstadt Berlin nur 30 km entfernt. „Wir hatten gehört, der Kurfürstendamm sei eine gute Adresse. Also sind wir mit unserem Auto voller Erdbeeren dorthin gefahren, haben einen Campingtisch aufgebaut und Erdbeeren präsentiert. Die gingen weg wie warme Semmeln. Bis die Polizei kam.“ „So geht das aber nicht“, meinten die Beamten. Statt eine Strafe zu verhängen, halfen sie bei der Suche geeigneter Wochenmärkte. Alle Einnahmen wurden sofort reinvestiert. Mal in technische Ausstattung, mal in Kauf oder Pacht weiterer Flächen. Die Familie lebte im Wesentlichen von ihrer eigenen Ernte, genau genommen von den kleinen Kartoffeln und all dem Obst und Gemüse, das sich nicht verkaufen ließ. 100 Arbeitsstunden in der Woche waren Standard. Ein Hektar nach dem anderen kam dazu, die Wochenmärkte traten in den Hintergrund, Sauerkirschen wurden an eine Konfitürenfabrik verkauft, Blumenkohl und anderes Gemüse gingen an die Großmärkte in Berlin und Leipzig. Erst oder schon – wie man es betrachten mag – 1991 hatte sich der Betrieb soweit re-etabliert, dass Familie Schultz einen Kredit über 150 000 DM bekam und eine erste Halle bauen konnte. „Bis dahin hatten wir ja nur den Himmel über uns und einen von der LPG übrig gebliebenen Akazienholzschuppen“, erzählt Michael Schultz. Die Währungsreform 2002 Die Euroeinführung im Jahr 2002 hat Michael Schultz als weitere tiefgreifende Veränderung erlebt. Ab hier traten Discounter auf den Plan; der Wettbewerb der größeren Erzeuger wurde angekurbelt, noch kostengünstiger zu produzieren, wobei meist noch größere Flächen und noch größere Produktionsmengen das Mittel der Wahl sind. Eine Entwicklung, die Michael Schultz beobachtet und die ihn bis heute wütend macht. Der Drang vieler einzelner Betriebsleiter, immer noch größer und effektiver zu werden, macht am Ende das wirtschaftliche Überleben für alle immer schwieriger. Familie Schultz zieht sich aus diesem Wettstreit zurück und orientiert sich wieder stärker in Richtung hofeigene Verarbeitung und Direktvermarktung. Was die ganze DDR-Zeit über immer irgendwie da war, in Form von Garagenproduktion und Tauschgeschäften, wurde nun zu einem offiziellen und wichtigen Standbein des Betriebs. Die vorhandene landwirtschaftliche Halle wurde von innen ausgemauert und zum Hofrestaurant umfunktioniert. Die Weinballons des Großvaters wurden durch moderne Verarbeitungstechnik ersetzt, während die Rezepte dieselben blieben. Das Brennen von Obstbränden und Whisky gesellte sich, wie bereits eingangs erwähnt, als neue Leidenschaft des Betriebsleiters dazu und trägt bis heute maßgeblich zum Gesamtkonzept des Betriebs bei. Katja Brudermann